Rückblick

100 Jahre anderes Radio

Ein Rückblick in Etappen

Entgegen der Einbindung in gesellschaftliche Machtverhältnisse war das Medium Radio seit seiner Erfindung immer auch Kommunikationsmittel der großen historischen Emanzipationsbewegungen. Die damit verbundenen Ideen und Hoffnungen haben sich in Experimenten und Medienprojekten manifestiert, die ihr Bewegungsumfeld mitunter überdauerten. So wurden sie immer wieder auch Vorbild und Inspiration für nachfolgende Aktivist:innen und ihre politischen Kämpfe.

Die 1920er und 1930er Jahre

Arbeiterradiobewegung

Nach der Einführung des Rundfunks als staatlich kontrolliertes Konsumgut im Jahr 1923 gründeten sich an vielen Orten Arbeiter-Radio-Klubs. Ihre Mit­glieder konzentrierten sich vorerst auf die Aneignung technischer Fähigkeiten. Aber waren die ersten Empfangsgeräte selbstorganisiert gebaut, artikulierten sie auch zunehmend Kritik gegenüber dem gehörten Programm: Die aus­gestrahlten Sendungen galten ihnen als staatsnah, nationalistisch und arbeiter­fern. Eine der zentralen Forderung proletarischer Radioinitiativen war des­halb die nach eigenen Arbeitersendern. Die sich zuspitzenden politischen Differenzen zwischen SPD und KPD führten ab 1928 jedoch auch zur Spal­tung der Arbeiterradiobewegung.

Der SPD gelang es über ihre Regierungs­beteiligungen zaghaften Einfluss auf den Rundfunk zu gewinnen, die KPD gründete hingegen ihren eigenen Freien Radio Bund Deutschlands. Der FRBD unternahm verstärkt illegale Sendeversuche, die aber letztlich über den Charakter des Symbolischen nicht hinaus kamen.

Die Arbeiterradiobewegung in Original-Tönen

Arbeiterradioaktivisten erzählen:

Werbeschallplatte Arbeiterradio:

Der sogenannten Neuordnung des Rund­funks im Jahr 1932 konnten beide Arbeiter­-Radio­-Organisationen nichts entgegensetzen. Dabei fiel das mittler­weile zum Leitmedium erwachsene Radio bereits vor der Machtübernahme der NSDAP weitgehend von deutsch­nationalen in nationalsozialistische Hände. 1933 wurden dann auch die Strukturen der Arbeiterradiobewegung zerschlagen.

Die 1970er und 1980er Jahre

Freie Radio Bewegung

Neue soziale Bewegungen schufen in den 1970er Jahren in der BRD eine umfangreiche linke Gegenöffentlichkeit aus nicht­kommerziellen und selbst­organisierten alternativen Medien. Sie wollten in den etablierten Medien »unterbliebene Nachrichten« verbreiten und denen zu einer eigenen medialen Stimme verhelfen, die sie sonst nicht hatten.

Anders als die Gründung einer Stadt­zeitung, eines linken Buchladens oder einer Videowerkstatt wurde das »Betreiben einer nicht genehmigten Sendeanlage« aber mit bis zu fünf Jah­ren Gefängnis sanktioniert. Dennoch entstand um das Jahr 1980 eine ganze Bewegung illegaler politischer Piraten­sender. Sie selbst nannten sich Freie Radios. Ihnen war die gesellschaftliche Reichweite der Alternativpresse zu gering und der öffentlich­rechtliche Rundfunk von den Parteien zu sehr zum Erhalt eines gesellschaftlichen Status Quo gezwungen. Bewegungs-­ und Aktionsradios begleiteten und koordinierten Anti­-Atomproteste und Hausbesetzungen. Programmradios sendeten regelmäßig, was lokale Grup­pen und Initiativen zu sagen hatten. Der Staat reagierte mit umfangreicher Repression.

Die Freie Radio Bewegung in Original-Tönen

Radio Freies Wendland, Ausschnitte aus der Live-Sendung von der Räumung des besetzten Bohrplatzes 1004 bei Gorleben am 4. Juni 1980:

Radio Zebra, Bremen, Ausschnitte aus der Probesendung im März 1980:

Einige der Sender gründeten des­halb Ende 1982 die Assoziation Freier Radios. Sie forderten anstatt der damals in der BRD erstmalig geplanten Zulassung privat­kommerzieller Rund­funkanbieter die Legalisierung nicht­ kommerzieller Lokalradios. Für andere Freie Radios war dies keine Option. Sie stellten ihren Sendebetrieb lieber ein, als sich unter die Kontrolle des Staates zu begeben.

1990 und die Folgejahre

Freie Radios Ostdeutschland (FROST)

Der ab Herbst 1989 erfolgte Bruch mit der Stagnation und der zentralis­tischen Bevormundung in der DDR, der mit einer zeitweiligen Implosion und Infragestellung der staatlichen Appa­rate einherging, ermöglichten auch im Rundfunk bisher Ungewohntes. In Ost-­Berlin, Erfurt, Chemnitz, Dresden und Weimar entdeckten ab Mai 1990 Initiativen aus den lokalen alternativen Szenen den Rundfunk als Sprachrohr. Anfangs wurde bei diesen unerlaub­ten Ausstrahlungen häufig der relativ rechtsfreie Raum sowie die Unsicher­heiten der Behörden im Umgang mit nicht genehmigten Rundfunksendern genutzt.

Die „Freien Radios Ostdeutschland“ in Original-Tönen

Radio P, Berlin, 1990:

Die nach der Übernahme bundes­deutscher Gesetze gemachten Erfah­rungen der Radioinitiativen waren unterschiedlich: Das im Prenzlauer Berg beheimatete Radio P unterbrach immer wieder seine Programme und verlor seinen Sender bei Polizei­-Durch­suchungen. Während Radio F.R.E.I. in Erfurt zum Abbruch seines Sendebetrie­bes gezwungen wurde und Radio PT in Weimar diesen nach den Einschüch­terungen eines Polizeieinsatzes ganz einstellte, hatte Radio T in Chemnitz keine solchen Auseinandersetzungen zu befürchten: Der Sender verzich­tete auf illegale Ausstrahlungen. Das Dresdner BRN3 hingegen war im Schutz der Masse an Besucher:innen der Bunten Republik Neustadt, einem links­ alternativen Stadtteilfest, ungestört zu empfangen. Verantwortlich waren Vertreter:innen des Zusammenschlus­ses der Freien Radios Ostdeutschland. Sie beklagten die Ausrichtung anderer Medien an politischen und ökonomi­schen Interessen.

Seit 1992

Gegenwärtige Freie Radios als Nichtkommerzielle Lokalradios

Beflügelt durch die Renaissance der Freien Radios in den neuen Bundes­ländern, initiierten diese mit den Resten der westdeutschen Radioprojekte im November 1992 die Gründung eines neuen Dachverbandes. Ein Jahr später entstand der Bundesverband Freier Radios. Seither vertritt der BFR seine basisdemokratisch verfassten Mit­gliedsradios und begleitet neue Freie Radio-­Initiativen auf dem Weg zu ihrer eigenen legalen Frequenz.

Je nach Bundesland und der dor­tigen Mediengesetzgebung sind die Voraussetzungen der 34 Mitglieds­radios allerdings äußerst verschieden. Was sie jedoch eint, ist der Grund­gedanke, sich kollektiv zu organisieren, ohne Gewinnstreben als Alternative zum öffentlich­rechtlichen sowie zum privat­kommerziellen Hörfunk zu agieren und sich kritisch mit den beste­henden gesellschaftlichen Verhältnis­sen auseinanderzusetzen.

Die legalen Freien Radios in Original-Tönen

Den heutigen Freien Radios könnt ihr auf UKW, via Webstream oder der Mediathek der Freien Radios lauschen:

Lizenziert und zum Teil finanziell gefördert von Landesmedienanstalten erfüllen die Sender von den Gesetz­gebern mehr oder minder anerkannte Funktionen im bundesdeutschen Mediensystem: Sie gelten als Ergänzung lokaler Öffentlichkeiten, als Orte demokratischer Meinungsäußerungen gerade für Minderheiten, als offen für Kreativität und experimentelle Formen. Sie sollen Medienkompetenz ver­mitteln und Ausbildungsaufgaben für andere Medien übernehmen.

Diese Rahmenbedingungen des Legalen haben die Freien Radiosender verändert. Im Kompromiss um staat­liche Anerkennung wurden sie ihrer politischen Radikalität weitgehend be­raubt. Gleichzeitig werden ihre medien­politischen Ideale mit den Wider­sprüchen einer alltäglichen Radiopraxis konfrontiert. Sie sind nicht mehr aus­schließlich Teil linker politischer Bewe­gungen, sondern eigenständige lokale Medienprojekte – die obendrein auch neue Rollen in einer sich zum Digitalen und Mobilen gewandelten Medien­landschaft erkunden.